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Villinger Mädsche


Kaum ein Gefühl lässt sich besser nachempfinden als Sehnsucht, sei es nach der großen Liebe, den ersten wärmenden Sonnenstrahlen im Frühling oder schlichtweg der Heimat. Sina Gienger (30), ein waschechtes Villinger Mädsche, wie´s der Hesse nennt, brach vor wenigen Jahren in die Großstadtmetropole Frankfurt auf, um einen neuen Lebensabschnitt zu starten, ihre beruflichen Kenntnisse als medizinische Fachangestellte im Uniklinikum zu vertiefen, vielleicht die Liebe ihres Lebens zu finden und abends mit einer Meute ausgelassener Frankfurter am Mainufer bei einem Sauergespritzten die Wolkenkratzerromantik zu genießen. Denn das moderne Frankfurt bietet vermeintlich so viel mehr als Villingen, beispielsweise Goethe als Cupcake, wippende Disco-Schiffe im nächtlichen Lichterglanz der Skyline, Pools und Bars auf Parkdecks, Handkäs´ to go und spiegelglatt asphaltierte Straßen, auf denen tief röhrende Schmuckstücke dahingleiten.

Im Uniklinikum wird Sina herzlich willkommen geheißen, sofort verplant und einem attraktiven Oberarzt zugeteilt. Für ein persönliches Pläuschchen fehlt die Zeit. Ob er freundlich oder grantig ist, lässt sich nicht feststellen. Ab in Kittel, Tupfer, Skalpell und Kanüle wechseln im Sekundentakt, für Stress und Adrenalin bleibt keine Zeit. Auf dem Heimweg beobachtet Sina Mitreisende in der U-Bahn, jeder in sich gekehrt, in das Smartphone vertieft oder in die Ferne dreinblickend. Die einzige Stimme in der gesamten U-Bahn ist jene, welche blechern künftige Haltestationen ankündigt. Im Briefkasten nichts als Werbung, der vorbeischlappende Hausmeister, welcher freundlich mit Guude grüßt und fragt: „Und, junges Frolainschä, habbe Se sich eigelebbt? Falls Ihne langweilisch werdde sollt´, moje spielt die Fraaachfurter Eidracht geje die Offebacher Drecksäck´. Die kriesche de Arsch voll, dess sach ich Ihne! Wo komme Se nochema her? Aus´m Süde, gäh? Kenne Se de Fraaachfurter Eidracht? Des müsse Se sich im Stadion aaagucke. Rischdisch guuude Fußballmannschaft. Mia habbe sogar en Pokal!“ Am nächsten Morgen liegt auf der Fußmatte ein Teller mit einem Kreppel nebst handgeschriebenem Zettel: „Für heute auf dem Dritten, Frankfurt : Drecksäcke. Guuden!“  

Am Abend geht es in den angesagtesten Club der Stadt. Acht Zentimeter Absätze, in die Jeans hineingeschossen, schicke Verlies-Kette um den Hals und das Zahnfleisch auf Hochglanz poliert. Mit euphorischem Röntgenblick wird die männliche Beute in Augenschein genommen. Doch schnell wird klar, die Liebe des Lebens wird sich hier nicht so schnell finden lassen. Zu unnahbar die Blicke, zu viel Hingabe an das Smartphone, inflationäre Cocktails, zu laut die Bässe. Die Konkurrenz auf Stöckeln, so hoch wie sie selbst, ist auf der Hut und wirft Sina böse Blicke zu. Die Botschaft ist angekommen: Lange Absätze, kurze Hauptsätze und ein liebes hallo-ich-bin-ein-Villinger-Maidle ist hier definitiv nicht drin. 

Als Sina samstags von ihrer Freundin Dany auf dem Markt angerufen wird, versteht sie kein Wort. Der Geräuschpegel von Marktschreiern, gröhlenden Fußball-Ultras, einer zwölfköpfigen Panflöten-Band und heulendem Esel, verkleidet als rosa Einhorn, übertönen die eigenen Gedanken. Unter Sina´s Füßen bildet sich im Minutentakt ein kleines Erdbeben; S- und U-Bahn geben sich die Klinke. Dany wird auf später vertröstet. Auf dem Markt gibt es alles, was das Herz begehrt. Birkenmarmelade mit Schuss, Honig mit Vulkanasche aus dem Taunus und vegane Woscht aus Fernost ziehen faszinierende Blicke auf sich. Das Wetter ist schön, der Stadtkern knüppelvoll. Und da warten sie schon, ein kleines Grüppchen Arbeitskolleginnen und -kollegen am Stehtisch, mit zwei prall gefüllten Bembeln, halbleeren Äppelwoigläsern, freudig zuwinkend. Der gutaussehende Oberarzt begrüßt Sina mit einem Gerippten und schenkt ein bis Oberkannte. 

„Ei guude wie!“ War das eine Frage? Sina schaut verdutzt, während Schorsch Kluni erklärt.

„So begrüße mä uns uff hessisch. Des Wott Guude steht aber aach für Hallo, Mahlzeit und Tschüss. Und ei Guude wie, des sacht ma, wenn ma hezzlich willkomme geheiße wett. Hier in Hesse wett so gebabbelt. Gibt´s des bei euch aach, so a schää´s Dialektschä?“

„Ha, scho!“

„Gesundheit!“

„Ha noi. Isern Dialekt isch us em allemannische. Bi iis in Villinge schwätze mer, wie de Schnabel g´wachse isch.“

Kluni´s Blick: Ägypten.

Auf dem Nachhauseweg telefoniert Sina mit Dany. „Wie goht´s dir? Häsch du en scheene Tag g´hät? Un häsch g´nueg zum Esse kriegt? Wätsch gern, dass ich dir selbschtg´machte Spätzle schick? Nachbar Josef isch e fange Stammgast im Autohaus, will er in e Loch g´fahre isch. Älli vier Räder sin rabg´floge, die Achs au und sieni Bandscheibe lieget no oemets uff de Gass. Jetzt verzell, wie goht's dir min Maidle?“ Direkt nach dem Telefonat packt Sina ihre Tasche und fährt am gleichen Abend nach Hause. Nach Frankfurt kehrt sie nie wieder zurück. 

„Frankfurt war eine tolle Erfahrung, jedoch fühlte ich mich von der ersten Minute an, trotz großer Herzlichkeit der lieben Hessen, verloren. Es ist dieses Gefühl, das sich schwer in Worte fassen lässt. Heimat bedeutet für mich der Duft von frisch zubereiteten Butterbrezeln, die Stille in sattgrünen Wäldern, dem Geräusch von Stoßdämpfern auf Villingen´s Straßen in der Lautstärke eines Meteoriteneinschlags, dem soliden Tratsch in Else-Kling-Manier vor der Lieblingseisdiele, Stürme, welche im Schwarzwald erst ab einer Windstärke von 200 km/h als laues Lüftchen gelten sowie dem Fluchen beim Überholen eines mit dampfendem Kuhmist beladenen Traktors auf der Bundesstraße, dessen Mief noch Stunden später anhält und von dem eines Wunderbaums kaum zu unterscheiden ist. Geht man abends mit seinen Mädels aus, reichen Glitzer auf dem Shirt und kichernde Blicke im Wechsel zwischen Männchen und romantisch anmutender Bierflasche“ erzählt Sina. Auf die Frage, ob sie etwas aus Frankfurt vermisse, antwortet Sina grinsend: „Ja, den attraktiven Oberarzt.“ Auch in Villingen sei es nicht so einfach, jemanden kennenzulernen, räumt sie ein. „Der Männermarkt ist leergefegt, jedoch überwiegt das Glück, wieder in der alten Heimat zu sein.“ Welche Botschaft möchtest du Frankfurt mitgeben? „Herzlich willkommen in Villingen-Schwenningen, aber lasst die Absatzschuhe daheim.“